Das große Missverständnis: “Nur-Text”-Seiten im Web

Das große Missverständnis: "Nur-Text"-Seiten im Web
Es hat erste Priorität in den Richtlinien der Web Accessibility Initiative (WAI): Seiten, die nicht für alle zugänglich sind, müssen einen Link zu einer zugänglichen Seite enthalten. Diese oft als “Textversion” bezeichnete Alternative enthält meist Text ohne Layout, kostet viel Pflegeaufwand und wird vermeintlich nur von wenigen Besuchern der Website benutzt. Insbesondere mit Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes am 1. Mai 2002 erhält das Thema “Nur-Text” neuen Aufwind in Webdesigner-Kreisen. In diesem Artikel erfahren Sie nicht nur, dass eine Alternativseite keineswegs nur Text enthalten muss, sondern er zeigt auf, welche großen Potenziale durch die Verwendung von Cascading Style Sheets in der “Nur-Text”-Version verborgen sind.

Im Jahre 1999 hat die
Web Accessibility Initiative
(WAI) – das Gremium des World Wide
Web Contortiums (w3C), das sich mit der Zugänglichkeit in allen
Standards für das Internet befasst – umfangreiche Richtlinien
für die Gestaltung von Web-Seiten
veröffentlicht.
Diese Richtlinien ("Web Content Accessibility Guidelines 1.0")
wurden nun als Grundlage für den am 1. Mai 2002 in Kraft getretenen
§ 11 des
Behindertengleichstellungsgesetzs
, der das Recht behinderter
Menschen auf den uneingeschränkten Zugang zu elektronischen
Informationsangeboten
festlegt, verwendet. Im Gegensatz zu ihrer
ursprünglichen Absicht, eine reineTextseite als Alternative
für nicht-zugängliche Webseiten zu empfehlen, hat die
Bundesregierung nun eingesehen, dass "Nur-Text"-Alternativen
nur im absoluten Ausnahmefällen anzubieten sind.

In der Begründung zur Rechtsverordbung zum § 11 BGG steht:

"…"
Beachten Sie dabei die geänderte Nummerierung: die WAI-Richtline
11.4 wird in der Anlage 1 der Rechtsverordnung zu § 11 BGG
als 11.3 aufgeführt; auch die Prioritäten 1, 2 und 3 der
WAI wurden in der Rechtsverordnung anders bezeichnet, indem WAI-Prioritäten
1 und 2 zu Priorität I zusammengefasst und WAI-Priorität
3 in Priorität II umbenannt wurde.

Viele Webdesigner waren lange der Ansicht, dass eine einfache Textversion
mit den wichtigsten Inhalten einer Site genüge, um die WAI-Richtline
11.4
nachzukommen. Das Problem dabei ist, dass solche Seiten
oft nicht aktualisiert wurden, wenn die Inhalte des "Originals"
aktualisiert wurden. Die Seiten – abgesehen vom Layout – verfallen
auch bezüglich des Inhalts in die "zweite Reihe".

Die "Nur-Text"-Seite

Dabei heisst es in der WAI-Richtlinie 11.4 keinesfalls, dass nur
Text auf einer "Nur-Text"-Seite erscheinen soll, sondern
vielmehr, dass wenn eine Seite nach besten Bemühen nicht barrierefrei
zu gestalten ist, sie dann ein Link zu einer alternativen Seite
angeboten werden muss, die

· die Standards des W3C
einhält,
· zugänglich für Behinderte (mehr Infos: http://www.barrierefreies-webdesign.de)
ist,
· den gleichen informativen und funktionalen Wert
wie das "Original" hat und
· im selben Umfang aktualisiert wird wie das "Original"

Eine "Nur-Text"-Seite darf also durchaus Grafiken enthalten,
wenn die Alternativtexte nicht nur für jede Grafik angegeben
werden, sondern auch den Sinn und Zweck, gegebenenfalls auch den
Inhalt (Buttons, Diagramme, usw.) enthalten. Eine zugängliche
Seite bedeutet auch, dass sie beispielsweise mit korrektem Strukturierungselementen
aufgebaut wird (z.B. Überschriften), kontrastreiche Farben
in der Gestaltung vewendet oder mit Style-Sheets und Ebenen statt
Tabellen gelayoutet wird.

Die parallele Site

Die Erstellung von "Nur-Text"-Seiten, gerade wenn Sie
sich die Aktualität berücksichtigen, klingt nach viel
Arbeit
. Ist es im Prinzip auch, wenn Ihre parallelen Seiten
nicht mit einem Content-Management-System automatisch generiert
werden. Eine Website wird zu zwei parallelen Websites! Es muss daher
genau überlegt werden, ob die Site nicht auf das eine oder
andere (nicht barrierefreie) Gestaltungselement verzichten kann.

Wenn Sie hingegen mit einem Content-Management-System arbeiten,
dann ist Ihnen viel Arbeit erspart. Sie können zu jeder Seite
eine Text-basierte Version parallel ausgeben und die beiden Seiten
gegenseitig verlinken, vom "Original" zur "Nur-Text"-Version
und umgekehrt. Aber wieso? Wieso nicht gleich das "Original"
barrierefrei gestalten? Gerade in einem Content-Management-System
können viele Aspekte des barrierefreien Webdesign gleich in
den Templates für das "Original" berücksichtigt
werden. Auch grafisch anspruchsvolle Seiten mit vielen vermeintlichen
Barrieren, wie z.B. Grafiken, Framesets oder Tabellen-Layouts,
können mit einem Content-Management-System relativ schnell
entsprechend den Standards des W3C barrierefrei umgestaltet werden.

Inhalt einer "Nur-Text"-Seite

Wenn Sie es nicht schaffen, Ihre Webseiten barrierefrei zu gestalten,
dann sollten Sie bei der Erstellung von "Nur-Text"-Seiten
darauf achten, dass alle Inhalte (Informationen) gleichermaßen
aktualisiert
und alle Navigationsmechanismen (Funktionen)
wie im "Original" berücksichtigt werden. Auf ein
anspruchsvolles Design dürfen Sie zunächst verzichten.

Es geht bei der "Nur-Text"-Version darum, dass Informationen
für jeden Besucher verfügbar sind, dass die Infornationen
klar strukturiert sind und kurze Ladezeiten gewährleistet
werden. Wenn Sie diesen Gedanken dann zu Ende führen wird klar:
Wer eine "Nur-Text"-Seite anbietet, wird entweder Seiten
mit unüberschaubaren Inhalten anbieten und/oder Navigationsmechanismen
programmiert haben, die schwer zu überblicken sind oder hohe
Anforderungen an den Browser stellen, und/oder mit viel "Ballast"
wie z.B. zahlreiche Grafiken oder Tabellen-Layouts nur langsam im
Aufbau sind. Das sind letzten Endes alles Fragen der Usability (mehr
Informationen unter http://useit.com),
die gegen das Interesse eines jeden Webmasters stehen dürften.

Die Lösung ist die Trennung von Inhalt (HTML) und Layout
(Style-Sheets)
. Wenn eine Seite nur Informationen enthält,
und alle Formatierungen und Layoutangaben in einer externen Style-Sheet-Datei
enthalten sind, dann wird die Seite nicht nur um das 3-6 fache schneller,
sondern die Informationen werden in allen Browsern dargestellt.
Browser, die keine Style-Sheets unterstützen, zeigen dann nur
den Inhalt ohne Layout und Formatierung an.

"Nur-Text" als Entwicklungsplattform

Selbstverständlich können Sie in eine "Nur-Text"-Version
Ihrer Site gestalterisch mit weiteren Elementen ausbauen, wie z.B.
Grafiken, wenn diese barrierefrei gestaltet werden. Wichtig ist
dabei, dass die "Nur-Text"-Version im gleichen Maße
gepflegt wird
wie das unzugängliche "Original".

Eine Website ist oft nicht ohne Weiteres barrierefrei zu gestalten.
Bestimmte Angelegenheiten, z.B. fehlende Alternativtexte für
Grafiken
, konnen schnell im Quelltext der HTML-Seiten eingegeben
werden. Aber grundsätzliche Veränderungen des Layouts,
z.B. von einem antiquierten Tabellen-Layout auf eine moderne CSS-Technik,
erfordert eine gewisse Zeit für die Implementierung, da die
Seiten wahrscheinlich alle neu aufgebaut werden müssen.

Beispielsweise sind auch statisch erstellte Seiten, die dynamische
Gestaltungselemente mit wichtigen Inhalten oder Funktionen enthalten,
oft nicht ohne Weiteres zugänglich zu umzugestalten. Es gibt
auf vielen Webseiten Navigationsmechanismen, die mit JavaScript
Mauspositions-abhängige fly-out-Menüs
erzeugen. Wer
Browser ohne JavaScript-Unterstützung einsetzt, JavaScript-Unterstützung
aus Sicherheitsgründen deaktiviert hat oder – z.B. bei Mobilitätsbehinderten
oder Blinden – eine Maus nicht benutzt, kann diesen Navigationsmechanismus
gar nicht verwenden und die Seite ist nützlos. Hier wäre
die Gelegenheit, in der "Nur-Text"-Version einen alternativen
Navigationsmechanismus
beispielsweise auf der Basis von Cascading
Style Sheets (CSS) zu entwickeln. So können nach und nach die
gestalterischen Elemente in einer zugänglichen Art und Weise
in die "Nur-Text"-Version einfliessen, bis Sie soweit
sind, das "Original" mit der "Nur-Text"-Version
komplett zu ersetzten.

Eine Sprachregelung

Es gibt keine Sprachregelung für die "Nur-Text"-Version
einer Website. Die gängigste Bezeichnung ist "Textversion".
Mit dem Hintergrund, dass "Nur-Text"-Seiten oft angeboten
wurden, um blinden und sehbehinderten Surfern den Zugang zu erleichtern,
möchten manche Webdesigner einen Text wie "für blinde
optimierte Version" oder Ähnliches als Bezeichnung verwenden.

Es gibt eine Untersuchung
eines amerikanischen Buchhandels, in der für einen Tag der
virtuelle Einkaufswagen "shopping cart" in "shopping
bag" (Einkaufsbeutel) umbenannt wurde. Das erstaunliche Ergebnis
dieser vermeintlich kleinen Änderung war ein Umsatzrückgang
von 80%
. Das zeigt wie wichtig Sprachregelungen sind,
damit Ihre Besucher die Informationen hinter dem Link auch finden.
Für die "Nur-Text"-Version einer Site ist es z.B.
unsinnig, die Seite als "Lesehilfe" zu bezeichnen – das
erfahren nur wenige Neugierige, aber nicht die Schnellsurfer oder
Nutzer Text-orientierter
Zugänge
, denen dieser Link eher helfen soll.

Im Prinzip müsste die Seite "Textversion" heißen,
denn eine CSS-basierte Webseite enthält idealerweise nur Informationen
und keine Formatierungs- und Layoutangaben, aber angesichts der
vielfältigen Möglichkeiten mit CSS wird es früher
oder später zu Konfusionen kommen. "Textversion"
sollte man allerdings als Bezeichnung verwenden, wenn es sich bei
der Alternativseite um eine abgespeckte Version des "Originals"
handelt.

Wer sich mit barrierefreiem Webdesign auseinandersetzt und sich
schrittweise dem Ziel einer barrierefreien und optisch ansprechenden
Site nähert, wird nicht um CSS und den vielfältigen Layoutmöglichkeiten
(weitere Infos: http://www.css-design.de/)
herum kommen. Angefangen mit der ersten Alternativversion, etwa
einer echten Textversion, bis zum erstrebten Ersetzen des "Originals"
durch die "Nur-Text"-Version, wird die Seite stets barrierefrei
bleiben. Deshalb kann anstatt "Textversion" die Bezeichnung
"barrierefreie Version" die Art und Absicht der
"Nur-Text"-Seite besser zum Ausdruck bringen. Falls Sie
Bedenken haben, dass Ihre Kunden auch mit diesem Begriff wenig anfangen
können, ergänzen den Link mit einem title-Attribut, z.B.
title="Textversion für den Text-orientierten Zugang".

Logische Verknüpfungen

Die WAI resp. W3C schlägt vor, dass Sie mit dem LINK-Element
arbeiten, um die Richtlinien 11.4 (sowie 6.5) einzuhalten. Das LINK-Element
mit seinen rel- und rev-Attributen wird aber bislang
kaum gebraucht und wurde von Standard-Browsern wie Microsoft Internet
Explorer und Netscape Navigator lange nur für die Einbindung
von Style-Sheets unterstützt. Richtig eingesetzt kann dieses
Element aber für Suchmaschinen, Content-Management-Systeme
und weitere Indexierungssoftware sehr nützlich sein,
um Websites im Aufbau und wechselseitiger Abhängigkeit darzustellen,
z.B. in einer Site-Map. So können Sie mit rel="prev"
die thematisch oder chronologisch vorherige Seite, mit rel="next"
die nachfolgende Seite, mit rel="chapter" oder
rel="section" Beziehungen zu übergeordneten
Seiten angeben und somit logische Zusammenhänge erstellen,
die theoretisch von Browsern in der Symbolleiste abgebildet werden
(in der Praxis werden diese Verknüpfungen aber leider nur in
den seltensten Fällen angezeigt).

Mit rel="alternate" können Sie auch eine Beziehung
zu einer oder mehreren alternativen Dateien anbieten, die
den Zugänglichkeitsrichtlinien entsprechen. Mit dem media-Attribut
können Sie sogar ergänzend bestimmen, für welche
Ausgabegeräte eine bestimmte alternativen Seiten am
besten geeignet sind, wobei auch hierfür die Unterstützung
in Standard-Browsern fehlt. Das W3C hat im HTML4.01-Standard folgende
Werte für das media-Attribut festgelegt:

screen
Bildschirm
Tty
Bildschirme mit festgelegter Textgröße (Displays)
TV
Fernseh-Bildschirm
projection
Projektor
handheld
Handheld-Geräte
Print
Druckvorschau
braille
Taktile (und somit linearisierte) Ausgabe (Braille-Zeile)
Aural
akustische Wiedergabe (Sprachausgabe)

Das folgende Beispiel zeigt, wie Sie eine media-Anweisung an den
Browser Ihres Besuchers angeben:

<!DOCTYPE HTML PUBLIC "-//W3C//DTD HTML 4.01//EN"
"http://www.w3.org/TR/html4/strict.dtd">
<HTML lang="de">
<HEAD>
...
<TITLE>Virtuelle Welten</TITLE>
<LINK rel="alternate" href="index_nurtext.htm"
title="Nur-Text-Version" media="aural, braille, tty">
...
</HEAD>
<BODY> ... </BODY>
</HTML>

Natürlich haben Sie damit nur die Einbindung einer alternativen
Seite erzielt, die in nur wenigen Browsern bereits funktioniert!
Das ist umso mehr ein Grund, das "Original" von vorneherein
barrierefrei zu gestalten!

Weitere Informationen
In Deutschland gibt es noch wenige Websites, die sich mit dem Thema
"barrierefreies Webdesign" intensiv befassen. Neben der
Homepage des Autors, http://www.barrierefreies-webdesign.de
(Informationen zum Buch "Barrierefreies Webdesign") gibt
es seit Anfang 2002 das vom Bundesarbeitsministerium geförderte
Projekt Barrierefreies
Informieren und Kommunizieren
(BIK), das mit seinem Team von
sechs Beratern Auskunft zum Thema erteilt. Sie können dort
eine ausführliche Beratung erhalten und Ihre Seiten auf Barrierefreiheit
testen lassen.

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